Zum Systemtransformations-Blog gibt es auch einen Telegram-Kanal, über den in kürzeren Abständen linke News en bloc kommen. Falls Ihr anschauen oder abonnieren wollt, hier lang

Zum Systemtransformations-Blog gibt es auch einen Telegram-Kanal, über den in kürzeren Abständen linke News en bloc kommen. Falls Ihr anschauen oder abonnieren wollt, hier lang
Ich bin nach dem Skandal um die Nicht-Berufung der Richter*innen für das Bundesverfassungsgericht [–> LINK] in der letzten Woche hart angestrengt von dem öffentlichen Versuch, die CDU „wieder ins demokratische Boot zu holen“. Ich verstehe das Ansinnen, angesichts dessen, dass die CDU gerade die stärkste Partei ist, und dem destruktiven Potential, was davon ausgeht, dass sie angeblichen „demokratischen parlamentarischen Gepflogenheiten“ bei der Berufung der Richter*innen nicht gefolgt ist.
Von moderat-konservativ über anti-demokratisch bis rechtsradikal: das potentielle Spektrum der CDU
Aber ich finde es wichtig, zu betonen, dass die CDU in der bundesdeutschen Geschichte immer ein sehr breites Kontinuum an konservativen Positionen abgebildet hat. Diese reichten von moderativ konservativen Positionen über rechtskonservative Positionen mit klaren antidemokratischen und obrigkeitsstaatlichen Tendenzen bis zum offenen Rechtsradikalismus im „bürgerlichen Anzug“ – letzeres gerade auf dem Feld Innere Sicherheit durch offene Hetze gegen Migrant*innen und eine im Kern anti-demokratische Politik der Repression und Überwachung durch die repressiven Staatsapparate, aber auch auf den Feldern Sozialpolitik (Hetze gegen Arme), Geschlechterpolitik (u.a. beim Thema Abtreibung, aber auch bei der Vergewaltigung in der Ehe), Umweltpolitik (Leugnung der Klimakatastrophe) u.v.m..
Inhalte des neuen rechten Blocks unter Führung der CDU
Wenn ich nur die 3 grossen Aufreger nehme, die dieses Jahr unter der Führung von Merz und Spahn von der CDU massgeblich entschieden wurden – also Durchstimmen der neuen Migrationspolitik mit der Afd (Januar 2025), Aussitzen des Maskenskandals durch die CDU-Führung (Juni 2025) und nun die Torpedierung der linksliberalen Richterin Brosius-Gersdorf für das Bundesverfassungsgericht (Juli 2025), zeichnet sich meines Erachtens die Bildung eines neuen rechten Blocks ab.
Dieser ist im Kern „antidemokratisch“, d.h. programmatisch rechts (Contra-Abtreibung, Contra-Migration, Contra-Wohlfahrt, Contra-Grundrechte usw.), paktiert offen mit rechtsradikalen Kräften und ersetzt „parlamentarische Gepflogenheiten“ durch eine machtbewusste rechte Transformationsstrategie im Zusammenspiel mit der AfD und rechten zivilgesellschaftlichen Kräften.
Die „politischen Skandale“ im Jahr 2025: bewusste Grenzverschiebung
Ich gehe dabei davon aus, dass
– Merz wusste was er tat, als er im Januar mit Stimmen der AfD die Wende in der Migrationspolitik einläutete, und damit sowohl die Positionen der AfD als auch die AfD als parlamentarische Machtoption für die CDU normalisierte
– Spahn weiss was er mit seinem Schweigen über den Untersuchungsbericht zur Maskenaffäre bewirkt, dass also sein Wegwischen der Berichte und das Totschweigen seiner eigenen Inkompetenz bei den Maskenkäufen und die offene Korruption bei der Maskenbeschaffung Wasser auf die Mühlen jener sind, die parlamentarische Politik nur noch als „korrupt“ und „selbstbereichernd“ wahrnehmen
– Merz und Spahn wussten, dass sie die Autonomie des Bundesverfassungsgerichts und der Justiz im allgemeinen durch ihre inhaltlich motivierte Absage an die Kandidatin Brosius-Gersdorf beschädigen. Gleichzeitig initiierten sie zusammen mit rechten Medien eine öffentliche Kampagne gegen die Kandidatin, die darauf abzielte, diese als nicht „tragfähig“ im Sinne eines vermeintlichen rechten politischen Konsenses, der Abtreibung ablehnt und sich gegen eine AfD-Verbotsverfahren wehrt, darzustellen. Im Kern nutzten Spahn und Merz also den eigentlich durch formale Regeln relativ vorbestimmten Ablauf der Richter*innenwahl, um eine hegemoniepolitische rechte Attacke zu fahren.
„Demokratisch“ ist Praxis und kein Label
Ich glaube, ich finde es richtig, zu beobachten, wie sich die CDU in diesen Punkten in den kommenden Monaten weiterentwickelt. Wenn sich jedoch am inhaltlichen Kurs der CDU nichts ändert, hoffe ich, dass in Zukunft weniger auf Merz sauerländischen Sparkassen-Filialleiter-Habitus oder Spahns „Hör- und Wahrnehmungsprobleme bei der Maskenaffäre“ eingegangen wird, und auch der CDU qua Parteiname oder vergangener moderat konservativer Abgeordneter nicht immer automatisch eine „demokratischer Stil“ angedichtet wird, den das aktuelle Personal, dass zwischen rechtskonservativen und rechtsradikalen Positionen oszilliert, einfach nicht hergibt.
Ganz im Gegenteil: Merz und Spahn fahren meines Erachtens bewusst auf dem Ticket einer „demokratischen Partei“, um ihre eigene rechte Blockbildung voranzutreiben. Die CDU oszilliert dabei fröhlich zwischen rechtskonservativen und rechtsradikalen Positionen und Bündnisses. Ob dort am Ende dann eine deutschnationale CDU-AfD-Koalition bei rauskommt oder eine rechtskonservative GroKo mit einer SPD in devoter Knechtstellung vor den machtpolitischen Drohungen der CDU ist dann auch egal bzw. liegt das dann alles in den Händen der Spahns und Merzens und ihren Selbstpositionen am rechten Rand des Konservatismus.
Linker Widerstand gegen permanente anti-demokratische Politik der CDU
Dagegen hilft wohl mal wieder nur linker Widerstand. Die Linkspartei und insbesondere Heidi Reichinek von der Linken machen es meines Erachtens gerade sehr gut vor, wie es geht, im parlamentarischen Raum die rechtsmotivierten politischen Brüche der CDU zu markieren und zu kritisieren. Es verbleibt in der Ansprache aber natürlich im parlamentarischen Rahmen, d.h. auch Reichinek appelliert noch an die CDU-Leute „sich zu besinnen“ [–> vgl. Reichineks Rede im Bundestag nach der Absagung der Abstimmung].
Ein außerparlamentarischer linker Diskurs sollte sich meines Erachtens davon weitgehend frei machen bzw hat eine andere Aufgabe: ohne kollegialen Anstrich frühzeitig auf anti-demokratische und rechte Tendenzen hinzuweisen, linke Positionen von der Zivilgesellschaft ausgehend selbstbewusst zu verteidigen und offene rechte Blockbildungen direkt zu benennen und anzugreifen. Oder anders gesagt: wer das „demokratische Boot“ -wie die CDU momentan – so offensichtlich verlässt, und so motiviert die rechte Welle reitet, dem sollte keine „demokratische Träne“ nachgeweint werden, sondern ein massiver basisdemokratischer Ausgrenzungsdiskurs entgegengebracht und das Wasser offen abgegraben werden. Kein Fussbreit einer solchen CDU und ihrer rechten Politik und Blockbildung.
Ich hab momentan echt Bauchschmerzen mit der AfD-Debatte und der Einschätzung durch den Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextreme Partei“ [–> LINK]:
1.) Die Verschärfung des Anti-AfD-Diskurses kann eine Steilvorlage für alle politischen Kontexte sein, in denen die AfD präsent ist. Sie muss dann aber auch im Sinne einer harten Ausgrenzung aller organisierten AfD-Kader genutzt werden. Da habe ich meine Zweifel wegen habitueller „parlamentarischer Gepflogenheiten“ und bereits bestehender Kooperationen zwischen AfD-Akteuren und anderen Parteien, wie etwa zwischen der CDU und der AfD in der Abstimmung über Migrationspolitik Ende Januar 2025.
2.) Dass der Verfassungsschutz nun als gesellschaftspolitische „Bewertungsinstanz“ herangezogen wird, ist einziger Skandal. Ob NSU-Aufbau in Thüringen in den 2000ern oder bestehende rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden – die Behörden in dieser Form und die „Hufeisentheorie“, die rechts und links stumpf gleichsetzt, als inhaltliche Bewertungsgrundlage müssen ersatzlos abgeschafft werden.
3.) Die verschärfte Einschätzung der AfD erfolgt auf Grund von Inhalten und nicht qua Organisation. Das Problem ist nun, dass diese Inhalte von Grünen bis CDU in den letzten zwei Jahren massiv kopiert wurden – insbesondere auf dem Feld der Migrationspolitik. Es müsste nun eigentlich öffentlich darüber diskutiert werden, ob diese Parteien damit Versatzstücke „gesichert rechtsextremer Programmatiken“ übernommen haben. Ich bezweifel das aber, weil der „Rassismus der Mitte“ in Doitschland noch nie als solcher benannt worden ist.
4.) Die AfD hat momentan die Zustimmung von ca. einem Viertel der Wählenden (siehe Befragung von Anfang Juli 2025 im screenshot), was das Ergebnis von ca 15 Jahren rechter Politik incl u.a. AfD-Gründung und Etablierung einer stabilen rechten Medienbubble ist. Ich finde, dass aus einer linken Perspektive schon zur Kenntnis genommen werden muss, dass 1/4 der Wählenden damit politisch in eine „rechte Lebensweise“ integriert sind – und jegliche Form der repressiven Bearbeitung der AfD droht, dieses nicht zu ändern. Die Opferdiskurse der AfD stehen genauso wie die rechte Medienbubble – inhaltliche und strategische Antworten darauf gibt es meiner Wahrnehmung nicht.
5.) Ich halte nichts davon, AfD-Wähler*innen als „fehlgeleitete Linke“ zu betrachten, wie es z.B. Sahra Wagenknecht probiert, sondern als Leute, deren politische Entscheidungen politische Konsequenzen nach sich ziehen. Die Gründe dafür, AfD zu wählen, mögen verschieden sein, der rassistische Effekt ist aber in jedem Fall da. Daran gilt es meiner Meinung nach die AfD-Leute zu messen, wenn wieder „die da oben“- und „lügenpresse“-mässig rumgeopfert wird.
6.) Als basisdemokratischer Linker würde ich mir wünschen, dass aktiver und differenzierter über den rechten Antiautoritarismus diskutiert wird, der das AfD Spektrum durchzieht. Aus der Perspektive linker Bildungsarbeit müssen wir m.E. aktiver in die einzelnen Punkte einsteigen, an denen es den Rechten gelungen ist, einen „begründeten Widerstand von unten“ zu erzeugen. Ein Mapping der rechten Diskurslandschaft ist daher aus meiner Sicht dringend von Nöten – auch um der rein repressiven Bearbeitung des „AfD-Problems“ mit Hilfe des staatlichen Law-and-Order-Apparats eine hegemoniepolitische-zivile Alternative solidarisch zur Seite zu stellen.
Heute findet im Deutschen Bundestag die Abstimmung über die unbegrenzten Militär-Kredite in Deutschland statt. Gestern gab als es kleine Einstimmung schonmal einen unerträglichen „ARD-Brennpunkt“ unter dem titel „Verteidigung – wie schützt sich Deutschland?“. Der Brennpunkt war geprägt von unreflektiertem Militarismus und einer „generellen Furcht vor Russland“ sowie einer harten Normalisierung von Rüstungsunternehmen als „normaler Branche“ und der militaristischen Forschung der Bundeswehr-Universitäten [–> LINK ZUR SENDUNG, video beginnt ab min 02:06].
Angesichts solcher Positionsbildungen im öffentlichen Raum, die eine massive militärische Aufrüstung mit unbegrenzten finanziellen Mitteln als alternativlos darstellen, möchte ich drei linke realpolitische Alternativen dazu kurz skizzieren.
(1) Keine Aufrüstung: statt dessen auf internationalem Parkett konsequentes Eintreten für zivile Lösungen (z.B. Fluchtrouten öffnen) und für diplomatische Verhandlungen unter Einbeziehung aller diplomatischen Optionen – und nicht auf schwachsinnige „wer-wird-diesen-krieg-gewinnen“ Ansätze.
Ich sehe, dass ein solches Vorgehen schwer wird bei einer aggressiven militärischen Außenpolitik anderer Staaten, z.b. jetzt von Russland unter Putin – aber ich finde es trotzdem eine eigene (falsche) politische entscheidung, als Reaktion darauf die eigene Gesellschaft in Doitschland zur „Kriegsgesellschaft“ umzubauen.
In diesem Zusammenhang sind dann leider auch solche „ARD-Brennpunkte“ wie gestern wichtige Stützpfeiler der Militarisierung, da sie eher an Militär-Propaganda erinnern denn an reflektierten Journalismus. Erst kam ein Interview mit Verteidigungsminister Pistorius, dann Berichte aus dem „Inneren der Truppe“, dann Berichte mit Rüstungsherstellen, mit Profs der Bundeswehrunis usw – und dann am Sendungsende „für die Ausgewogenheit“ eine Studentin und ein Unternehmer, die „sich Sorgen machen“. Sorry, so etwas kann nicht als ernsthafte Berichterstattung über eine der weitreichendsten Entscheidungen in den bundesdeutschen Gesellschaft gelten.
(2) Konsequente Abrüstungspolitik, insbesondere was Atomwaffen angeht: dieses wird leider oft vergessen – eine solche Forderung ist aus meiner Sicht aber zentral, da aggressives außenpolitisches Verhalten und sein Drohpotential maßgeblich auf der Waffenstärke der angreifenden Partei beruht. Ich würde sagen, dass es – so lange es Atomwaffen gibt – kaum eine Möglichkeit gibt, angreifende Atommächte zu stoppen. Weswegen ich direkt nach dem russischen Angriff auf die Ukraine schon den Eindruck hatte, dass die einzige Möglichkeit, den Krieg zu beenden, ein Diktatfrieden mit Gebietsabgabe der Ukraine sein wird. Aus dem einfachen Grund, dass wenn die Unterstützung der Ukraine durch westliche Staaten eine bestimmte Grenze überschreitet, Putin mit dem Einsatz der Atomwaffen drohen wird, was er auch getan hat.
Und um der eigenen romantischen „freedom fighter against Russia“ Erzählung des Westens in Bezug auf die Ukraine gleich das Wasser abzugraben: wenn sich eine größere Atommacht den USA bei ihren Interventionen in Afghanistan und in den Irak entgegengestellt hätte, oder gar Raketensysteme geliefert hätte, gehe ich davon aus, dass die USA dieses auch als Interventionen in ihren „Machtbereich“ interpretiert hätten, und evtl auch ihre Atommacht betont hätten.
Das dystopische Szenario eines angedrohten Atomkriegs wird so lange realpolitisch verfangen, wie es in breitem Maße Atomwaffen gibt. Umso bitterer ist es natürlich, wenn es in der letzten Woche ernsthafte Debatten darum gibt, ob jetzt französische Atomraketen Doitschland beschützen können oder ob nicht Doitschland eigene Atomwaffen bräuchte. Aus meiner Sicht der letzte militaristische Schwachsinn.
(3) Die kleine Lösung: wer Bock auf „Rüstungswettlauf“ hat, aber irgendwie noch das innenpolitische Maß halten möchte, kann sich für eine begrenzte Erhöhung der Militärausgaben einsetzen. Denn um nochmal die Tragweite der heute wahrscheinlich beschlossenen Erhöhung der Militärausgaben zu betonen – es geht um eine no-limit-Erhöhung der Militärausgaben, die alle anderen Ausgabenbereiche im doppelten Sinne massiv unter druck setzen wird: als direkt konkurrierende staatliche Ausgabenbereiche und als Bereiche, bei denen gespart werden muss, um die Zinsen für die Militär-Kredite zu bedienen.
Im Kern halte ich daher das Vorgehen von CDU/CSU, SPD und den Grünen für einen militaristischen Kurzschluss: sie ist getragen von dem politischen Unwillen, die politische Unsicherheit, die aus der der neuen Außenpolitik der USA unter Trump entsteht, abwägen zu wollen mit anderen „Unsicherheiten“, z.b. in Bezug auf die klimatische Beschaffenheit des Planeten, den Bildungschancen einzelner offen benachteiligter Gruppen in Doitschland oder den Armutsverhältnissen in Doitschland – und eine bewusste Abwägung vorzunehmen und dann eine Entscheidung zu treffen. Statt dessen herrscht momentan ein „we are außenpolitisch left alone“-Gefühl vor, dass nun „schnell gestopft“ werden soll – ohne dass jedoch ernsthaft über den gesellschaftlichen Preis diskutiert wird. Dieser Umstand stellt für mich das antidemokratische am aktuellen Militarismus dar.
Ich unterstütze ja seit längerem bestimmte Akteure in der Linkspartei, die ich für emanzipatorisch halte – und war dementsprechend neugierig, wie der Bundesparteitag an diesem Wochenende in Halle abläuft. Um es kurz zu machen: ich war sehr positiv überrascht von den klaren inhaltlichen innerlinken Debatten und dem solidarischen Umgang miteinander.
Für alle, die es nicht geschafft haben, sich den Parteitag anzuschauen, habe ich mal drei Reden herausgesucht, die ganz passend für das positive Post-Wagenknecht-Klima in der Linkspartei stehen und gleichzeitig auch die neuen Parteivorsitzenden Ines Schwerdtner und Jan van Aken vorstellen.
Abschiedsrede Janine Wissler als Parteivorsitzende
Bewerbungsrede Jan van Aken für den Parteivorsitz
Programmatische Rede Ines Schwerdtner nach ihrer Wahl als Parteivorsitzende
Heute sind die Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen mit absehbaren Wahlerfolgen für die rechtsradikale AfD. Als westdeutsch Sozialisierter ohne Ostverwandtschaft ist es immer etwas seltsam, über „den Osten“ zu publizieren: Einschätzungen drohen voll von Vorurteilungen und „random stories“ zu sein, die mensch irgendwo aufgeschnappt hat – oder sich aus dem weiterhin stark westdeutsch dominierten öffentlichen Diskurs in Deutschland zu speisen, der den Osten abwechselnd als „pleite“ (ökonomisch gescheitert) oder „rechts“ (politisch gescheitert) sieht.
Diese westdeutsch zentrierte Sichtweise unterschlägt die eigene politische Einbindung in die polit-ökonomische Entwicklung der DDR und der ostdeutschen Bundesländer, und ignoriert darüber hinaus die Konflikte und Widersprüche der eigenen westdeutschen Geschichte – sowohl im Hinblick auf die brüchige und umkämpfte kapitalistische Entwicklung als auch die Kontinuität rechter Bewegungen und Einstellungsmuster in der breiten Bevölkerung.
Um dem etwas entgegenzutreten, habe ich mich in den letzten Tagen etwas in das Thema „Critical Westness“ eingelesen, und möchte im Folgenden knapp auf Quellen und Aussagen hinweisen, die ich für eine weitere Beschäftigung mit dem Thema für weiterführend halte.
Critical Westness 1: Begriffsbildung
Der Begriff der „Critical Westness“ versucht, innerhalb des Ost-West-Dialogs die Rolle und Geschichte Westdeutschlands stärker zu thematisieren, um dessen vermeintliche „Allgemeinheit“ oder „unsichtbar-normale Sprecher*innen-Position“ aufzuheben, aus der heraus dann „der Osten“ angeblich „neutral“ bewertet werden soll.
„Critical Westness“ ist dabei an „Critical Whiteness“ angelehnt, eine postkoloniale Perspektive, die das oftmals rassistische Sprechen über Schwarze Menschen durch weisse Menschen durch das Hinterfragen „weisser Normalitäten“ kontextualisieren und kritisieren möchte.
„Critical Westness“ als Begriff wurde 2020 von dem ostdeutsch sozialisierten Autor und Sozialwissenschaftler Heiner Schulze gebildet:
„Im Kern thematisiert er die unreflektierte und meist unsichtbare Normsetzung westdeutscher Perspektiven. Gelenkt wird hierdurch der Blick auf die unhinterfragte, westdeutsche Norm im medialen und politischen Diskurs der Bundesrepublik, die als solche aber nie benannt wird.
Statt dem Fokus einer (meist) defizitären Perspektive auf den Osten zu folgen, soll der Blick zurück auf den Westen gelenkt werden. Die Wende und der Postsozialismus sind nicht nur eine Sache des Ostens: die Wende, deren Folgen und der Diskurs darüber sind immer auch eine Wende des Westens.
Ohne Einbeziehung und Reflexion von Westdeutschland als nicht hinterfragte Norm ist eine ganzheitliche Debatte über Wende und Postsozialismus, ‚den Osten‘ oder Gesamtdeutschland kaum möglich.“
Den ganzen Text von Schulze findet ihr hier [–> LINK]
Critical Westness 2: Begriffsdiskussion
Sehr lesenswert fand ich in diesem Kontext das Interview von Heiner Schulze mit der ostdeutsch sozialisierten, Schwarzen Sozialwissenschaftlerin und Autorin Katharina Warda, die selbst 2020 einen viel beachteten Essay mit dem Titel „Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland“ [–> LINK] verfasst hat, der sich mit ihrer Sozialisierung als Schwarze Person in der DDR und in Ostdeutschland beschäftigt.
Das Interview zeigt erstens, wie wichtig eine Perspektive von „Critical Westness“ im Sinne einer Hinterfragung und Zurückdrängung westdeutscher Perspektiven und einer grundlegende Öffnung „ostdeutscher“ Sprachräume ist. Es zeigt zweitens aber auch, wie fragwürdig die Anlehnung des Critical Westness-Begriffs an jenen der „Critical Whiteness“ und damit verbundener Kolonisierungsvorstellungen von der „Wende“ 1990 und einer Gleichsetzung von kolonialen Gewaltverbrechen mit der westdeutschen, ökonomischen Landnahme nach der „Wende“ ist. Drittens wurde für mich deutlich, dass das „Erzählen über den Osten“ nicht in der Opposition zum Westen aufgeht, sondern innerhalb „ostdeutscher Perspektiven“ entlang von Fragen nach Geschlecht, Rassifizierung, politischer Einstellung zur DDR-Staatsführung u.v.m. genauer hingeschaut und binnendifferenziert werden muss.
So werde zum Beispiel „viel zu wenig besprochen, wie unterschiedlich die Ostdeutschen die Wende erlebt haben. Nicht alle waren von Arbeitslosigkeit betroffen, nicht alle mussten neue berufliche Lebenswege einschlagen, nicht wenige wollten raus aus ihren vorherigen Strukturen und haben neue Wege eingeschlagen, nicht wenige sind aufgestiegen, andere wiederum haben drastische Abstiege erlebt. Unterm Strich waren die biografischen Verläufe eben unterschiedlich und haben zum Teil auch Möglichkeiten eröffnet.“ (Katharina Warda).
Hier das gesamte Interview [–>LINK]
Critical Westness: Begriffsdiskussion II
In ähnlicher Form sensibilisiert die Autorin Nelly Tügel für immanente Probleme in der Critical Westness-Diskussion. Ausgehend von Studien, die belegen, dass Ostdeutsche und Leute mit Migrationshintergrund ähnlichen Abwertungsstrategien ausgesetzt sind, beharrt sie zum einen darauf, rassistische und anti-ostdeutsche Abwertungen dennoch auf Grund unterschiedlicher Erfahrungen und Begründungsstrategien nicht gleichzusetzen, sondern dieses im Rahmen von intersektionalen Analysen sensibel miteinander zu verknüpfen. Zum anderen betont sie, dass die Sichtbarmachung und in gewisser Form auch Abspaltung westdeutscher Perspektiven durch eine Critical-Westness-Perspektive nicht dazu führen dürften, dass Ost- und West-Biographien als gegensätzlich oder einander entgegenstehend betrachtet werden:
„Natürlich sind Rassismus und die Verächtlichmachung ostdeutscher Herkunft nicht dasselbe. Begrenzt ist die Analogie schon, weil sie Klassenzugehörigkeiten und andere Unterschiede innerhalb der beiden Gruppen aus dem Blickfeld geraten lässt, aus denen sich wiederum ganz andere Gemeinsamkeiten ableiten ließen.
Der frühere Kali-Kumpel aus Bischofferode hat nicht nur mit dem pensionierten türkischen Stahlarbeiter aus Duisburg viel gemein, sondern qua sozialer Herkunft und Berufserfahrung auch mit dem „biodeutschen“ Ex-Bergmann aus Bottrop.
Wer wiederum als einer von Zehntausenden Vertragsarbeitern im Osten lebte, 1990 ohne Aufenthaltstitel dastand und die Pogrome nach der Wende miterlebte, teilt die Erfahrung existenzieller Angst mit Geflüchteten im Westen.
Eine Migrantin mit Kopftuch wird, was das Leben mit Klischees angeht, eher in dem sächselnden Bornaer einen Leidensgenossen finden als in dem Künstler aus Ost-Berlin.
Diese Differenzierungen sind nötig, um nicht grob über Lebensrealitäten hinwegzugehen.“
Den ganzen Artikel findet Ihr hier [–> LINK].
Critical Westness: Begriffsdiskussion III
Demgegenüber betonen die Autorin Jana Hensel und die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan (die oben erwähnte Studie über den Vergleich von rassistischen und anti-ostdeutschen Abwertungsstrategien erstellt hat) in einem Gespräch noch einmal den produktiven Mehrwert des Critical Westness Begriffs. So eröffne dieser die Einsicht, nicht nur breitenwirksam und öffentlich über rechte Strukturen und Einstellungen in den ostdeutschen Bundesländern zu sprechen, sondern genauso über rechte Strukturen in Westdeutschland vor und nach der Wende:
Interviewer*in: „Mit der Diskussion über Hanau weisen Sie darauf hin, dass das Rassismus-Problem kein rein ostdeutsches ist. Hanau ist ein erschreckendes Beispiel für westdeutschen Rassismus. Diskutieren wir das als Gesellschaft zu selten?
Jana Hensel: „Der Verlauf dieses Jahres mit den Diskussionen nach Hanau, den „Black Lives Matter“-Demonstrationen und der Debatte über Rassismus in der Polizei haben gezeigt, dass wir den strukturellen Rassismus in den westdeutschen Bundesländern noch nie so stark diskutiert haben wie jetzt. Über Rassismus im Osten haben wir zwar noch längst nicht ausreichend diskutiert, aber über dieses Thema haben wir uns spätestens nach 2015 immer wieder gebeugt. Wir suchen nach Wegen, wie man dieses Thema nun in einer anderen, größeren, umfassenderen Perspektive betrachten könnte. Bisher glaubten viele, dass der Osten der rassistischere Teil unserer Gesellschaft ist. Ja, Rassismus artikuliert sich im Osten offener, stärker, gewaltvoller. Aber im Westen gibt es andere, eigene rassistische Strategien. Die Verbindungen zwischen beiden Realitäten zu suchen, betrachte ich als eine der wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart.
Das ausführliche Gespräch findet ihr hier [–> LINK]
Dieser kurze Text ist eine Reaktion auf die aktuelle Krise der undogmatischen Linken in Deutschland. Diese Krise identifiziere ich entlang von zwei Faktoren: erstens den sich wiederholenden Niederlagen in politischen Kämpfen gegenüber neoliberalen, neokonservativen oder rechtsradikalen Projekten, Diskursen und Praxen. Diese Niederlagen ereignen sich durchgängig auf Feldern und in Bezug auf soziale Verhältnisse, die von unterschiedlichen Strömungen der undogmatischen Linken als Kern ihrer politischen Aktivität und als zentral für eine positive oder negative Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse betrachtet werden. Hierzu zähle ich die Felder Umwelt, Geschlechterverhältnisse, Anti-Kapitalismus, Sozialpolitik, Friedenspolitik und Anti-Militarismus, Migration sowie Anti-Autoritarismus, Überwachung und Repression.
Zweitens sind seit längerem sinkende Umfragewerten für die Linkspartei zu beobachten, die vor wenigen Wochen – nach der Abspaltung der BSW – bundesweit unter die 3%-Marke gefallen ist, und somit jetzt in bundesweiten Wahlumfragen den „Sonstigen Parteien“ zugeschlagen wird. Diese Entwicklung ist insofern bitter, als der einzige parlamentarische Akteur, der breit für linke zivilgesellschaftliche Akteure mit ihren Forderungen realistisch und parteiweit für eine Repräsentation bis ggf. Durchsetzung ihrer Interessen ansprechbar ist, bei der Bundestagswahl 2025 aus dem Parlament zu verschwinden droht.
Selbstreflexion von linkem Habitus, Inhalten und sprachlichen Formulierungen
Um es kurz zu machen: die Krise der undogmatischen Linken wird sich meines Erachtens nicht durch eine „Bewegung nach vorne“ lösen lassen, sondern nur durch massive interne Selbstreflexionsprozesse in Bezug auf Habitus, Inhalte und sprachliche Formulierungen. Oder anders ausgedrückt: die undogmatische Linke muss sich selbst verändern, um in der gegenwärtigen Situation mehr Gehör zu finden und ihr bisher nicht zugewandte Leute für die eigene Perspektive und daraus resultierende Forderungen zu gewinnen.
Eine solche Veränderung kann nicht am Reißbrett geplant und „umgesetzt“ werden, sondern nur in Dialogen mit der Restbevölkerung. Diese ermöglichen, die eigene soziale Positionierung in Bezug auf Habitus, Inhalte und sprachliche Formulierungen in actu zu reflektieren, und mit der Positionierung anderer Leute abzugleichen.
In diesen dialogischen Prozessen muss klar sein, dass undogmatische Linke weder „Heilsbringer*innen“, „helfende Sozialpädagog*innen“, „kluge Köpfe“ oder „Parteikader“ sind, die in Dialog treten wollen. Sondern politisch engagierte Menschen, die versuchen, ihre eigene Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen politischen Situation mit einer allgemeingesellschaftlichen Veränderung jener Verhältnisse zu verbinden, und darüber reden oder sich mitteilen wollen.
Widerstände und Erfahrungen gegen undogmatisch linke systemtransformatorische Theorie und Politik
Ich schreibe nun seit mehreren Jahren ein Blog und einen Messenger-Verteiler zum Thema „Systemtransformation“ und weiß um die Schwierigkeit, eine gute undogmatisch-linke Beschreibung und Kritik gegenwärtiger Verhältnisse mit einer utopischen Antizipation und Narration von emanzipatorischen Veränderungspotentialen zu schaffen. Ums klar zu sagen: es kostet viel Kraft und ist sehr anstrengend. Aber mensch ist nicht allein – es gibt so viele gute undogmatisch linke Vorarbeiten, in Praxis und Theorie, auf die es sich lohnt zurückzugreifen.
Ich denke, es muss allen, die sich auf diesen Weg machen, klar sein, dass sie gegen erhebliche Widerstände anarbeiten. Diese reichen von strukturkonservativen Haltungen auf individueller Ebene bis politischen Unglücks- und Drohszenarien im öffentlichen Raum, von expliziter Lobbyarbeit und Gewaltandrohungen wirkmächtiger Verbande und Gruppen, die vom Status Quo profitieren, bis zu den negativ besetzten Restbeständen verlorener undogmatisch linker Kämpfe und daraus resultierender Ohnmacht und verlorener Hoffnung auf ein besseres Leben.
Zwei politische Entwicklungen der letzten 45 Jahre sind diesbezüglich zusätzlich hervorzuheben: erstens das Ende des Realsozialismus als öffentlich wahrgenommener, wirtschaftlicher Systemalternative. Der autoritäre, parteizentrierte und gewaltvolle Charakter vieler realsozialistischer Staaten war zwar bereits während seiner Existenz für viele undogmatische Linke hochgradig kritikwürdig und nicht unterstützenswert, es ist dennoch der Marker im öffentlichen Raum, der am häufigsten aufgerufen wird, wenn mensch sagt, dass er „links“ oder „antikapitalistisch“ sei oder „sich ein anderes System wünscht“. In diesem Kontext muss daher immer die Geschichte der undogmatischen Linken betont und wiederholt werden, die sich erst aus der Kritik am Stalinismus und dem autoritären Parteicharakter vieler realsozialistischer Staaten massenhaft entwickelte, und sich als Gegenreaktion primär dem Konzept der Basisdemokratie verschrieb.
Zweitens dürfen die Auswirkungen des Neoliberalismus in mehrfacher Hinsicht nicht unterschätzt werden. Zu aller erst natürlich diskursiv bzw. hegemoniepolitisch die dem Neoliberalismus immanente Perspektive, dass der Kapitalismus „Natur“ sei. Thatchers Statement „TINA – there is no alternative“ mag plakativ klingen, es ist der breiten Masse der Bevölkerung genau wie der Grossteil der politischen Intellektuellen aber mittlerweile normal geworden, und steht als Absage an alle emanzipatorischen Veränderungswünsche und praktischen Transformationsversuche emotional massiv im Raum. Zusätzlich ist es den Neoliberalen gelungen, den Freiheitsbegriff, der bis dahin ein emanzipatorischer Standard undogmatisch linker Politik war und es auch in Zukunft wieder sein sollte, individualistisch, kontextlos und wirtschaftlich verengt zu kapern. Sich von gesellschaftlichen bzw. fordistisch-beengten Verhältnissen „zu befreien“ wurde so für viele Subalterne zum Bild für den erzwungenen „freien Gang“ in die ökonomische Unsicherheit und verschärfte Ausbeutung.
Die daraus resultierende soziale Verwüstung der unteren Einkommensschichten ist meines Erachtens zudem bisher kaum aufgearbeitet. Nach der Zerstörung der ostdeutschen Wirtschaft und die Schaffung eines riesigen Niedriglohnsektors durch die Regierung Kohl hat insbesondere die Durchsetzung von Hartz-IV und neoliberaler Arbeitsmarktreformen durch Rot-Grün ab 2001 nicht nur die praktische sozial- und wirtschaftspolitische Verschiebung von SPD und Grünen ins konservative Lage bedeutet (aus dem sie sich bis heute nicht 1mm rausbewegt haben), sondern das massenhafte wirtschaftliche Scheitern von Existenzen und die perspektivlose Verarmung von Sozialleistungsbezieherinnen.
Gepaart mit dem „modernisierend-freiheitlichen“ Habitus der neoliberalen Szene, der „einfache, schlanke Reformen für Alle“ mit einer Vielzahl von „Synergieeffekten“ versprach, die jedoch nur in wirtschaftspolitischen Dysfunktionalitäten, gesellschaftlicher Unterversorgung und individualisierter Armut endeten, ist ein diskursives Amalgam entstanden, das „freiheitlich-emanzipatorische Angebote“ unter den historisch begründeten Verdacht des „Klassenverrats“ und verschärfter Klassen- oder Elitenherrschaft stellt. Wer heute von „Systemwechsel“ reden möchte, muss sich daher bewußt sein, wie dieser zuletzt neoliberal erreicht und durchgesetzt wurde, und welche sozialen Spuren dieser hinterlassen hat.
Dieses zu reflektieren, bedeutet jedoch nicht, das politische Ziel einer linken Systemtransformation aufzugeben, ganz im Gegenteil. Es geht eher darum, sich bewusst zu machen, wer mensch ist, was mensch verändern möchte und was diese Veränderungen für andere Menschen bedeuten. Und das alles in historischer Absicht, weil das eigene Handeln eine Vorgeschichte hat und irgendwann auch Geschichte sein wird.
Eine undogmatisch linke Narration einer Systemtransformation zu entwickeln, die dieses berücksichtigt, muss das Ziel haben, im Alltagsleben genau wie bei Wahlentscheidungen den konkreten Eindruck und das Gefühl zu erzeugen, dass trotz der vorfindlichen Situation ein anderes System grundsätzlich möglich, wünschenswert und lebbar ist.
Reflexion des innerlinken bildungsbürgerlichen Habitus
Diesbezüglich stellt der mehrheitlich bildungsbürgerliche Habitus innerhalb der undogmatisch linken Szene ein Riesen-Problem dar – verwendet er doch oft eine abstrakte Sprache, benutzt unreflektiert akademisierte Begrifflichkeit, die dann als Herrschaftsinstrumente wirken, und grenzt sich über akademisiertes Wissen von einem angenommenen, „ungebildet-emotionalem Habitus“ ab, den es „zu belehren“ gelte. Hinzu kommt eine habituell vorgelebte, naturalisierte „Professionalität“, die „Fehler“ und „fehlerhaftes Verhalten“ implizit stigmatisiert und von sich distanziert anstatt das eigene Gewordensein und eigene Lernprozesse transparent offen zu legen und für „Fehlerfreundlichkeit und -akzeptanz“ in den eigenen Kontexten zu werben.
Darüber hinaus wohnt dem bildungsbürgerlichen Habitus oft eine protestantische, bildungsorientierte Askese inne, die intellektuelle Arbeit verabsolutiert und entweder selbst von „Spass“ und „Freude“ tendenziell entfremdet ist oder sich gar bewusst davon im Sinne „höherer Ziele“ distanziert. Verbunden mit der in Folge des hohen kulturellen Kapitals durchschnittlich höheren Klassenposition ergibt sich insbesondere gegenüber subalternen Lebenslagen ein seltsam widersprüchliches Verhältnis.
Diese Dominanz des bildungsbürgerlichen Habitus in der undogmatisch-linken Szene hat zwei gravierende negative Folgen. Zum einen begründet dieser in politischen Dialogen ein neues Herrschaftsverhältnis, wird also selber zum hierarchischen Problem. Zum anderen verhindert dieser einen produktiven linken Dialog mit Leuten, die sich bisher nicht der undogmatischen Linken zugehörig fühlen, da er an sich nicht ausreichend vermitteln kann, warum eine linke Systemtransformation gedanklich sinnvoll und emotional anstrebbar sein könnte.
Meines Erachtens wird die undogmatische Linke in näherer Zukunft keine Terraingewinne erreichen, wenn sie sich damit nicht auseinandersetzt. Ziel muss es sein, eine politische Neugierde auf linke politische Veränderungen zu erzeugen, indem undogmatisch Linke überhaupt erstmal breiter sprachfähig und möglichst barrierefrei ansprechbar werden.
Zur Sprachfähigkeit gehört auch die Vermittlung konkreter Emanzipationspotenziale, also in einem ersten Schritt die Auseinandersetzung mit und das emotionale Verständnis für alltägliche soziale Verhältnisse in Deutschland, in einem zweiten Schritt und daran anschließend eine utopische Antizipation linker Systemtransformationspotenziale. So etwas ist leicht geschrieben – dahinter steckt jedoch feldorientiert-spezifische, emotionale und intellektuelle Arbeit.
Intersektionalität als politische Kernkategorie
Konkrete Herrschaftssituationen in systemtransformatorischer Absicht zu verstehen ist eine komplexe Tätigkeit, die sich meines Erachtens und für die nähere Zukunft am Begriff der Intersektionalität orientieren sollte. Ich übersetze den Begriff als „Überschneidung von unterschiedlichen Herrschaftsverhältnissen“. Ich denke, dass sowohl die sozialwissenschaftlichen Forschungen der letzten 50 Jahre als auch praktische linke Bündnisarbeit gezeigt haben, wie unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse in konkreten Situationen, politischen Konfliktlagen oder Menschen eine zentrale Rolle spielen.
Einen politischen Entwurf einer linken Systemtransformation zu verfassen, kann daher aus meiner Sicht nur intersektional erfolgen. Statt sich immer wieder der Frage zu stellen, „welches nun der entscheidende Faktor für eine Entwicklung war“, finde ich nur noch sinnvoll, das systemische Zusammenspiel der Faktoren, deren gegenseitige Absicherung oder Widersprüchlichkeit systemtransformatorisch in den Blick zu nehmen.
Dabei kann auf die vielfältigen Vorarbeiten der linken sozialen Bewegungen zurückgegriffen werden, die klare Begriffe, Analysen und Standards für Herrschaftssituationen und emanzipatorische Verhältnisse entworfen haben. Diese linken Standards sollten auch dann, wenn insbesondere ehemals linke Parteien wie die SPD und die Grünen im rechtskonservativen Sumpf versinken, schlicht aufrechterhalten werden.
Zu diesen linken Standards oder „linken Faustregeln“ zähle ich:
_______________________
Lars Bretthauer, Mailkontakt: –> HERE
Eines der umstrittensten aktuellen Themen innerhalb der politischen Linken ist die Positionierung zum Thema Sexarbeit, ihrer politischen Einordnung und staatlichen Regulierung. Innerhalb der feministischen Debatte stehen sich aktuell jene Positionen gegenüber, die eine Kriminalisierung des Kaufes von sexualitätsbezogenen Dienstleistungen anstreben (sog. „Nordisches Modell“ in Anlehnung an die Regelungen vor allem in Schweden), und jene, die eine Liberalisierung der staatlichen Regulierung von Sexarbeit bei gleichzeitiger sozialer Absicherung der mehrheitlich weiblich gelesenen Sex-Arbeiter*innen und damit eine grundlegende gesellschaftliche Akzeptanz von Sexarbeit als Beruf fordern.
Das Thema Sexarbeit ist in jedem Fall eine riesige politische Projektionsfläche für zentrale Fragen aktueller westlicher Gesellschaften: darf Sexualität kommodifiziert und. kommerzialisiert werden bzw. kann und soll diese als „Arbeit“ wie jede andere Arbeit verstanden werden? Worauf bezieht mensch sich im zu vereinbarenden Spannungsfeld von als Berufsentscheidung zu wertender Prostitution einerseits und physisch erzwungener Prostituion andererseits, wenn über Sexarbeit gesprochen wird? Ab welchem Punkt beginnt eine politische Bevormundung von Sexarbeitenden, wenn immer wieder Nicht-Sexarbeitende mit ihren politischen Vorstellung von Sexualmoral, Gender-Rollen, Kapitalismus, Lohnarbeit, Klassenpolitik, internationaler rassistischer Arbeitsteilung u.v.m. Regulierungsmodelle für den Bereich der Sexarbeit entwerfen?
Ich habe jetzt mal angefangen, nach Quellen zu suchen, die irgendwie einsichtige Perspektiven auf das Thema entwickeln.
Einführung in den Stand des Konflikts
Der verständlichste Artikel, den ich zum politischen Konflikt um Sexarbeit gefunden habe, ist ein Bericht der Deutschen Welle von 2021, der sich mit der Entwicklung der Sexarbeits-Debatte seit 2017 und dem damals verabschiedeten „Prostituiertenschutzgesetz“ beschäftigt. Dabei werden 2017 getroffene Aussagen im Gesetzgebungsprozess bezüglich einer „angestrebten verbesserten Sicherheit“ von Sexarbeitenden durch eine Registrierungspflicht für Sexarbeitende, einen besonderen „Prostitutierten-Ausweis“, aber auch konkrete Vorschriften zur Gestaltung der Arbeitsplätze mit den Stimmen sowie der Arbeits- und Lebensrealität von Sexarbeitenden abgeglichen. Ergebnis: viele Sexarbeitende sehen im „Prostituiertenschutzgesetz“ eine massive Diskriminierung, Prekarisierung und Kriminalisierung ihres Berufszweiges [–> LINK ZUM ARTIKEL].
Stigmatisierung von Sexarbeit
Auch wenn sich westliche Gesellschaften in vielen Bereichen als „sexuell libertär“ oder „sexuell frei“ verstehen, wird Sexarbeit bis heute in unterschiedlicher Weise massiv gesellschaftlich stigmatisiert. Dies reicht von diskriminierenden Arbeits- und Gesundheitsnachweisen über die immer wieder drohende staatliche Illegalisierung und Unsicherheit von ausgeübter Sexarbeit bis zur gesellschaftlichen fachlichen und moralischen Aberkennung des „Arbeitsstatus“ von Sexarbeit. Der Podcast „Pasta Putanesca“ der beiden Sexarbeitenden Giorgina und Phantessa aus Berlin widmet sich in der sehr hörenswerten Folge „fight stigma!“ den unterschiedlichen Formen der Stigmatisierung und ihren Umgangsweisen damit [–> LINK ZUR FOLGE AUF SPOTIFY].
Von absoluter Diffamierung bis zu harter Kritik: innerfeministische Ablehnung von weiblicher Sexarbeit und innerfeministischer Widerstand dagegen
Innerhalb feministischer Debatten sind die Positionierungen zu Sexarbeit sehr unterschiedlich. Als prominentestes Presseorgan hat sich seit den 1980er Jahren die Zeitschrift „Emma“ positioniert, die sich vehement gegen die legale Sexarbeit von Frauen* ausspricht, und dieses mit einer Kritik des patriarchalen, auf Gewalt oder Geld beruhenden Verfügungsverhältnisses über weibliche Körper begründet. Entsprechend wird eine rechtliche Bestrafung der Käufer von sexuellen Dienstleistungen gefordert. Wie kann diese patriarchatskritische Position aus der Perspektive von Sexarbeitenden bewertet und eingeordnet werden? Welche Rolle spielen dabei die soziale Herkunft der Sexarbeitenden? Und inwiefern bestehen strukturelle Unterschiede zwischen unterschiedlichen Prostitutionsformen, d.h. bewusst entschiedenen oder gewaltvoll erzwungenen? Auch diesen Fragen hat sich unter dem Titel „haters gonna hate“ der Podcast „Pasta Putanesca“ gewidmet – Anlass war ein shitstorm gegen eine der Podcasterinnen. [–> LINK ZUR FOLGE AUF SPOTIFY]
Empirie der Sexarbeit und staatlicher Verbotspolitik
Über Sexarbeit zu reden bzw. ein Urteil zu haben, scheint vielen leicht zu fallen – oft werden jedoch die empirischen sozialwissenschaftlichen Forschungen zu dem Feld nicht berücksichtigt. Die Sozialwissenschaftlerin Jenny Künkel hat diesbezüglich einen sehr gut verständlichen Text zur Einführung geschrieben, der die bisher vorliegenden Forschungsergebnisse zu Sexarbeit und staatlichen Verbotsversuchen zusammenfasst, und auf diese Weise die Forschungsperspektiven auf Sexarbeit grundlegend erweitert. Eine ihrer Kernthesen: ein staatliches Verbot von Sexarbeit – ob direkt oder indirekt über das „Nordische Modell“ – betrifft zu aller erst die Sexarbeitenden in negativer Weise, und marginalisiert so die Betroffenen erheblich. [–> LINK ZUM TEXT]
Support für Sexarbeitende: „Hydra“
Neben autonomen Organisierungen von Sexarbeitenden ist die NGO „Hydra“ in Deutschland eine der bekanntesten Anlaufstellen als Interessensvertretung für Sexarbeitende. Hydra artikuliert zum einen die politischen Interessen von Sexarbeitenden im Hinblick auf die gesellschaftliche Perspektive und staatliche Regulierung der Prostitution [–> LINK ZU STELLUNGNAHMEN] – die Organisation bietet aber auch Rechts- und Finanzberatungen [--> LINK], finanzielle Hilfen und einen Rechtshilfefonds [–> LINK] für jene, die in und durch ihre berufliche Tätigkeit als Sexarbeitende sowie öffentliche Statements zum Thema Sexarbeit in Rechtsstreits verwickelt werden.
Falls Ihr ein paar Euros über habt, und in dem Feld unterstützen wollt, bitte gerne hierhin spenden [–> LINK]
Kriminalisierung von Armut
Niels Seibert hat in einem exzellenten Kurz-Essay im Neuen Deutschland die Kriminalisierung von Armut vor Gericht in Deutschland geschildert. Seibert hat sich dafür in Berlin-Tempelhof über 100 Verfahren mit geringfügiger Schadenshöhe (z.B. Lebensmitteldiebstähle im Wert von 4,40 Euro) oder der „Erschleichung von Leistungen“ (z.B. ÖPNV-Fahren ohne Ticket) angeschaut. Fazit: die Klassengesellschaft lebt und wird von der Klassenjustiz zementiert. [–> LINK ZUM ARTIKEL]
Spitzel, Überwachung und Innere Sicherheit
Bereits im Jahr 2017 veröffentlichte ein Autor*innen-Team um Hannes Obens und Claudia Morar die Dokumentation „Im inneren Kreis“, die sich mit in linke Gruppen eingeschleuste staatliche Spitzel in Hamburg und Heidelberg beschäftigte. Dabei geht es weniger in Tatort-Manier um die Lösung unbekannter Verbrechen, sondern die der Öffentlichkeit weithin unbekannten, zerstörerischen Auswirkungen der Spitzeltätigkeiten auf persönliche Umfelder und Beziehungen. Der Film steht nun bis zum 1.7. in der ARD-Mediathek [–> LINK ZUR DOKU].
Zusammenfassung des Berichts zu Muslimfeindlichkeit
Wie in verschiedenen Medien berichtet wurde, hat das Bundesinnenministerium Mitte März 2024 den von einer Expert*innen-Kommission erarbeiteten Bericht zu Muslimfeindlichkeit vorläufig zurückgezogen, nachdem eine Reihe von in dem Bericht als antimuslimisch erwähnten Personen gegen diesen geklagten hatten [–> BERICHT].
Direkt nach seiner Veröffentlichung im Jahr 2023 hat die Initiative „Neue Deutsche Medienmacher“ die sehr lesenswerten, zentralen Thesen des Berichts jedoch bereits zusammengefasst und als Leitfaden für seine medienschaffenden Mitglieder veröffentlicht [–> PDF].
Momentan ist die konservative Presse und das entsprechende Parteienspektrum in Deutschland im RAF-Jagdfieber mit Sabber vor dem Mund. Wagenplätze und Wohnungen werden durchsucht, einige Leitmedien titeln schon wieder vom „Linksterrorismus“ und Berlin-Kreuzberg als Wohnort wird zum „Hört des Bösen“ ausgerufen.
Ich weiss nicht so recht, was ich dazu sagen soll, weil ich es angesichts der aktuellen riesigen politischen Probleme in diesem Land (Klima, Krieg, Armut, Rassismus usw.) völlig absurd finde, dass nun auf 3 (!) RAF-Mitgliedern in höherem Alter rumgeritten wird.
Ich möchte daher nur 3 kurze Sachen dazu sagen:
(1) 3 Ex-RAF-Mitgliedern stehen über 650 Neo-Nazis (Stand 2022, siehe Graphik) gegenüber, die mit Strafbefehl gesucht werden, und von den Sicherheitsbehörden „irgendwie nicht aufgefunden werden können“. Was ist da los bei den Sicherheitsbehörden? Auf dem rechten Ohr kein Anschluss unter dieser Nummer?
(2) Ist es für mich paradigmatisch, dass nach einer 6-wochen andauernden bundesweiten Mobilisierung gegen rechte Strukturen „plötzlich“ die Jagd nach „linken“ Ex-RAF-Leuten in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte rücken soll. No way Leute – die AfD gibts weiterhin, und eventuelle Sympathisant*innen bei den Sicherheitsbehörden in den dortigen rechten Netzwerken auch.
(3) Bleibt der Verweis auf die RAF als öffentlicher Angriffspunkte und Stigmatisierungsstrategie der konservativen-liberalen Freund*innen des Status Quo natürlich weiterhin bestehen – und verweist aus meiner Sicht darauf, dass die Geschichte der RAF und insbesondere ihre Form der Gewaltanwendung bis heute in der undogmatischen Linken nicht vernünftig aufgearbeitet ist. Eine Aufgabe für die nähere Zukunft.